Abyssos
Blutskandal ans Licht gezerrt
Blutig geht es zu im Roman Abyssos. Doch nicht nach Schema F, nicht im Sinne einer Gewaltorgie. Meine Geschichte handelt buchstäblich von Blut, dem Saft des Lebens. Grundidee: Gäbe es eine globale Verschwörung um manipulierte Blutspenden und Blutkonserven – die Folgen für die Menschheit wären katastrophal.
Tatsächlich greift der Roman skandalöse Vorgänge auf, die im Jahr 2015 zur üblichen medizinischen Praxis gehören. Als Romancier erlaube ich mir natürlich künstlerische Freiheiten: Überspitzungen und fantastische Ausschmückungen. Im Kern geht es jedoch um einen realen Skandal. Die im November 2014 von der ARD ausgestrahlte Reportage »Böses Blut – Kehrtwende in der Intensivmedizin«1 nannte beim Namen, was für mich seit vielen Jahren längst kein Geheimnis mehr ist. Bereits im Jahr 2009 dachte ich über einen Roman zum Thema Blut nach. So ein Buch könnte für einigen Wirbel sorgen, überlegte ich mir. Deshalb tastete ich mich sehr behutsam an den Stoff heran.
Erst im Januar 2012 skizzierte ich meine Überlegungen schriftlich. Ich wählte dafür den Projekttitel »Blut«. Gründliche Recherchen folgten. Erst anderthalb Jahre später wagte ich mich an den Text der Geschichte heran. Das Rohmanuskript entstand 2013 in einer eruptiven Arbeitsphase auf Mallorca. Ich schrieb alles vom 12. September bis zum 16. Oktober 2013 nieder, oft 16 Stunden am Tag. Das Buch bekam einen neuen Namen: Abyssos.
Schon in diesem Titel kündigt sich das apokalyptische Szenario an. Das griechische ábyssos bedeutet »Abgrund«. Durchaus passend, denn in der Geschichte nimmt Missbrauch von Blutspenden wahrlich abgründige Ausmaße an. Der – selbstverständlich frei erfundene – Deutsche Rote Kreis und andere Spendendienste spielen damit den Drahtziehern einer globalen Verschwörung in die Hände. Sie bedroht das Leben von Abermillionen, die eine Bluttransfusion empfangen haben. Und von deren Kindern.
Die wahren Hintergründe der Story sind kaum weniger spannend wie die mysteriöse Geschichte. Der Roman brandmarkt eine gefährliche medizinische Praxis, die sich im blinden Fleck des öffentlichen Bewusstseins zu verstecken scheint. In der guten Absicht Leben zu retten, spenden unzählige Menschen Blut. Tatsächlich bewirken sie damit oft genau das Gegenteil: Sie liefern den Rohstoff für Leid und Tod. Angesichts des Ausmaßes dieser Vorgänge darf man getrost von einem Blutskandal sprechen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO beziffert die Zahl der Blutspenden im Jahr 2013 auf 107 Millionen.2 Das entspricht, grob gerechnet, etwa 45 Millionen Litern. Dieser Strom von Blut gefährdet die Gesundheit und oft sogar das Leben tausender ahnungsloser Patienten. Dabei ermöglichen moderne Methoden des Blutmanagements längst den weitgehenden Verzicht auf Fremdblut in der Intensivmedizin.
Auch im Roman erwähne ich das »wachsende Angebot an Behandlungsmethoden, die auf Fremdblut verzichten. Wissenschaftliche Studien belegen, dass diese Alternativen den Patienten in vielen Fällen nur nützen: Sie erholen sich schneller von operativen Eingriffen, die Sterblichkeitsrate sinkt, Nebenwirkungen lassen sich minimieren, und einige Fehlerquellen wie die Verwechslung von Blutkonserven entfallen ganz. Warum setzen sich diese neueren, besseren Methoden so langsam durch?« Das zu erörtern wäre eine öffentliche Diskussion wert. Vielleicht kann der Roman dazu einen weiteren Anstoß geben. Immerhin geht es um Tausende von Menschenleben.
Therapien mit Fremdblut stehen bei Fachleuten und Medien seit Langem in der Kritik. Der oben erwähnte ARD-Bericht »Böses Blut – Kehrtwende in der Intensivmedizin« etwa nennt erhebliche Langzeitschäden bei Krebspatienten infolge von Blutgaben. Selbst Eigenblutspenden bergen, wie die Reportage zeigt, ernste Risiken. Warum verhallen so viele Warnungen ungehört? Auf der Suche nach Antworten habe ich etliche Mediziner und Krankenpfleger befragt. Mein persönliches Fazit: Bis heute lernen Studienabgänger und Doktoranden auf den Universitäten so gut wie nichts über die Risiken der Therapien mit Fremdblut. Wen wundert’s, wenn im medizinischen Lehrbetrieb die verfügbaren Alternativen ebenso stiefmütterlich behandelt werden. Eine junge Ärztin unter den Testlesern meines Romans räumte ein: »Ich bin definitiv skeptisch und aufmerksamer geworden, was das Thema Blut anbelangt, und in mir hat das Buch definitiv das Denken angeregt!«
Wer den Widersprüchen auf den Grund zu gehen versucht, betritt ein Minenfeld. Immerhin geht es um viel Geld. Dies belegen etliche Medienberichte zum Geschäft mit unentgeltlich erbrachten Blutspenden.3 Manchmal gehe ich bis an die Schmerzgrenze, um den Leser aufzurütteln. Im Roman heißt es, Blut sei ein Organ. Mediziner stützen diese Sichtweise. Die Frage muss daher erlaubt sein: Ist die Aufnahme fremden Menschenblutes in den eigenen Körper Kannibalismus? Und: Warum und wofür sollten wir weiter das Wohl Abertausender Patienten opfern? »Der Strom aus Blut trieb Mühlräder an, die Milliarden von Euros schöpften«, nennt der Roman einen möglichen Grund.
Noch einmal: Ich nähere mich dem Thema Blutspenden mit den Stilmitteln der Phantastischen Literatur. Wie schon im Roman Die Galerie der Lügen provoziere ich nicht um des billigen Effekts willen. Ich möchte meine Leser zum Selberdenken anstiften. Bei Abyssos geht es mir nicht darum, die hervorragende Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes zu herabzuwürdigen. Ein lobenswerter Dienst am Menschen darf jedoch kein Freibrief sein. Dies gilt auch für den DRK. Edle Ziele allein verhindern weder Fehlentwicklungen noch Missbrauch. Das sollten die jüngeren Skandale um die Vermittlung von Organspenden oder um die »gelben Engel« des ADAC gezeigt haben. Selbst scheinbar bewährte Verfahren gehören regelmäßig auf den Prüfstand. Was gestern noch galt, kann morgen schon überholt sein. Nur wer den Status quo hinterfragt, kann ihn verbessern. Jeder Fortschritt entsteht aus Veränderung.
1 Dokumentation »Böses Blut – Kehrtwende in der Intensivmedizin« bei YouTube
2 Quelle www.gbe-bund.de
3 Vergleiche 1. NDR-Reportage »Das Rote Kreuz – Zwischen Ehrenamt und Geschäft« (Extrakt auf mediathektipps.de/das-rote-kreuz-zwischen-ehrenamt-und-geschaeft ; Sendetermine unter www.fernsehserien.de/45-min/folgen/das-rote-kreuz-zwischen-ehrenamt-und-geschaeft-524791 ).
2. »Blutspenden: Vom Gefühl zum Kalkül«, Süddeutsche Zeitung, 6.10.2006, 22.5.2010 – Online unter sz.de/1.927709
Zum Inhalt
Ein Noteinsatz wirft den Arzt Pit Zuckmayer in eine bizarre Szene: Im Gleisbett des Berliner U-Bahnhofs Leopoldplatz liegt ein dunkelhäutiger Riese ohne Beine. Von den abgerissenen Gliedern des Verunglückten fehlt jede Spur. Zwischen den Schienen befindet sich nur Sand.
Der Verletzte heißt Zekarias. »Stoppt die Domen!«, ächzt er und fügt hinzu: »Folge dem Strom aus Blut.« Dann bäumt der Sterbende sich auf und kratzt Pit im Gesicht. Dabei geschieht mit diesem etwas Unerklärliches. Er hat das Gefühl aus der Haut heraus- und als ein anderer wieder hineinzufahren.
Der riesenhafte Mann stirbt. Irgendwie beneidet ihn Pit. Der Notruf hatte ihn daran gehindert, sich selbst das Leben zu nehmen. Genau vor einem Jahr sind seine schwangere Frau und ihr Baby gestorben. Der Killer hieß TRALI: transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz. Pit gibt sich die Schuld daran, damals die Bluttransfusion nicht verhindert zu haben, die bei Maja zu der tödlichen Immunreaktion führte.
Noch am Unfallort muss sich Pit den Fragen von Kriminaloberkommissarin Katharina Nour stellen. Sie ist eine orientalische Schönheit, die sich offenbar nicht nur für seine Arbeit als Notarzt interessiert. Sie besucht ihn sogar zu Hause und kommt ihm dabei näher, als es dem jungen Witwer lieb ist. Plötzlich zersplittert seine Wohnungstür. Riesenhafte Frauen mit sechs Fingern an jeder Hand stürmen in seine Wohnung. Die Anführerin der mit Messern und Schwertern bewaffneten Amazonen sieht aus wie das singende Fotomodel Grace Jones.
Als Letzter betritt ein bronzehäutiger, mindestens zwei Meter vierzig großer Gigant Pits Wohnzimmer. Seine Amazonen ehren ihn mit dem Titel Ahiman. Die wie Rabenfedern glänzenden schwarzen Haare, die breite hohe Stirn, die flache Nase, das spitze Kinn und die weit auseinanderstehenden Augen – Pit kennt diesen Mann. Er hat letzte Nacht von ihm geträumt. In diesem Albtraum hatte ein einziger Blick des Giganten genügt, um einen Menschen zu töten.
Und nun starrt der Riese Pit an, während er ihn nach dem Verunglückten aus dem U-Bahnhof fragt. Was ihm Zekarias erzählt habe, will der Ahiman wissen. Pit gibt sich ahnungslos, doch er hat das Gefühl, der Gigant stochere mit einem glühenden Schürhaken in seinem Kopf nach den gesuchten Informationen. Ehe Pit dem Ahiman seine Geheimnisse offenbart, eskaliert die Situation: Katharina Nour schießt Pit zweimal in die Brust.
Er stirbt.
Aber dann erwacht er wieder.
Die Spurensicherung der Polizei durchsucht seine Wohnung. Kim Schneidewind, seine Kollegin vom Noteinsatzfahrzeug 2505, und sein Famulus Elias Meerbaum verarzten ihn gerade. Kim kann sich keinen Reim auf die Verletzungen machen. Solche Schüsse hätten tödlich sein müssen. Doch bei Pit verheilen die Wunden bereits.
Die Polizei verhaftet Pit. In seiner Wohnung sei eine völlig ausgeblutete Leiche gefunden worden, erklärt ihm der Kommissar. Die Notaufnahme im Krankenhaus bescheinigt Pit, dass er hafttauglich ist. Seine nächste Station ist die Justizvollzugsanstalt Moabit.
Für Pit reißen die bizarren Ereignisse in den folgenden Stunden und Tagen nicht ab. Sein Leben gerät zusehends aus den Fugen. Zekarias, der tote Riese vom Leopoldplatz, verschwindet aus dem Leichenschauhaus. In dem Leichensack findet die Polizei Sand. Mit der Blutprobe, die ihm Elias nach dem Unglück abgenommen und ins Labor geschickt hat, verhält es sich ebenso: In den Röhrchen habe sich nur Sand befunden, beschwert sich die Laboratin.
Pit bekommt im Gefängnis unerwarteten Besuch von dem bekannten Fotomodel Sara Nuru. Obwohl es für ihn seit Majas Tod nie eine andere Frau gegeben hat, kann er sich der Reize der hochgewachsenen Äthiopierin kaum verschließen. Sie scheint ein bisschen verrückt zu sein. Sara gibt sich ihm als Zekarias' Schwester zu erkennen und möchte wissen, ob Pit seit dem Unglück irgendwelche Veränderungen bei sich beobachtet hat. Die Frage beunruhigt ihn.
Offenbar weiß Sara etwas von einer Verschwörung einer Gruppe, die sich die Domen nennt. Spenderblut spiele dabei eine Rolle. Blutspenden auf der ganzen Welt könnten von den Machenschaften der Domen betroffen sein. Pit erwähnt seine Träume von dem Ahiman. Er müsse vor Anbruch des nächsten Morgens fliehen, wenn ihm sein Leben teuer sei, drängt Sara. Pit hat keine Ahnung, wie er aus der JVA entkommen sollte.
In der kommenden Nacht weht durch das Fenster ein feiner Strom aus Sand in seine Zelle. In den Schatten verwandelt sich die flüchtige Erscheinung in eine atemberaubend schöne, schwarze Venus. Es ist Sara Nuru.
Auch die Amazonen des Ahiman sind ins Gefängnis eingedrungen, um Pit zu entführen. Vom Zellengang her machen sie sich an seiner Tür zu schaffen. Er begreift, dass es für ihn keine neutrale Ecke gibt, in die er sich zurückziehen kann. Will er sein altes Leben zurück, muss er dem Strom von Blut folgen. Er muss die Verschwörung der Domen aufdecken. Muss herausfinden, in was Zekarias ihn verwandelt hat. Und er muss sich sofort – und buchstäblich – mit Sara Nuru aus dem Staub machen …