Der Drache Gertrud
Wie alles begann
Der Drache Gertrud ist mein erstes veröffentlichtes Buch. Das Erzählen und Fabulieren habe ich zwar mit den Träumen des Jonathan Jabbok, dem ersten Band der Neschan-Trilogie, begonnen, die Drachendame Gertrud verschaffte mir jedoch den Zugang in die Buchläden. Dabei entstand das Märchen, wie bereits mehrfach geschildert, aus einer Not heraus: Meine Tochter Mirjam sollte mit zwölf Jahren ein von mir selbst verfasstes Buch bekommen, doch Die Träume des Jonathan Jabbok waren noch nicht einmal zur Hälfte fertig. Von einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur Untätigkeit verdammt, gärte in meinem Kopf eine kleine Geschichte, die dann am letzten Tag der Krankschreibung eruptiv zum Ausbruch kam: Auf der Grundlage der unten gezeigten, von Mirjam gezeichneten Landkarte schrieb ich das Märchen Der Drache Gertrud oder wie der Schmied Josua einer kurzsichtigen Drachendame beim Brüten half.
Das Land Drahtigistan von Mirjam mit ca. neun Jahren entworfen.
In meiner Geschichte konnte ich endlich einmal mit den Missverständnissen aufräumen, die seit Anbeginn der Zeit das Verhältnis zwischen Drachen und Menschen belasten. Zu diesen inakzeptablen Vorurteilen gehört die Behauptung, Drachen seien böse Menschenfresser, denen man nur mit Misstrauen begegnen dürfe. Ein Vater möchte seiner Tochter natürlich Werte vermitteln und sie vor Irrtümern bewahren. Hassgefühle gegenüber Andersartigen beruhen oft auf ungerechtfertigten Ängsten. Sie sind in unserer Welt nach wie vor weit verbreitet und es erschien mir angemessen, auch dieses Phänomen zu thematisieren. Die Geschichte von Gertrud wurde so zu einer Metapher, die sich nicht nur gegen Vorverurteilungen wendet, sondern auch zeigt, dass jemand unter seelischem Druck Dinge anrichten mag, die ihm später zwar Leid tun, die ihn dann aber längst in ein falsches Licht gerückt haben. Wenn man demjenigen jedoch mit Liebe und Einfühlungsvermögen hilft, dann ist ein harmonisches Zusammenleben selbst mit schwierigen Zeitgenossen möglich. Das erfordert natürlich den Mut eines Schmiedes Josua. Solcherlei Einsatz wird aber auch belohnt, frei nach dem Motto: »Wer viel gibt, dem wird selbst viel gegeben.«
Die gemeinsame Geschichte von Drachen und Menschen ist lang und voller Missverständnisse (Zeichnung aus der Kampagne »Ohne Rauch geht's auch« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung).
Nachdem das Märchen im Computer war, musste nun die Herstellung in Angriff genommen werden. Ein einfacher Ausdruck kam für mich nicht in Frage. Mirjam sollte ja ein richtiges Buch bekommen, das man gerne in die Hand nimmt, weil es sich von außen schön anfühlt und wie ein Schatzkästchen auch innen Schönes zu bieten hat. Dieserhalb musste ein Winterstiefel meiner Frau das Rohmaterial für den Umschlag des Büchleins liefern. Und so bekam Mirjam, in rotbraunem Leder eingebunden, rechtzeitig das versprochene Buch. Wer hätte damals gedacht, was sich daraus noch entwickeln würde!
Zunächst sah es jedoch danach aus, als würde mein Drache ein Haustier bleiben, das nur Familienangehörige und Freunde kennen, von der breiten Öffentlichkeit aber nicht wahrgenommen wird. Aus dem kleinen Leserkreis kam dafür um so mehr Ansporn: Aus dem Drachen dürfe keine Eintagsfliege werden, das habe die Geschichte nicht verdient. Kurzum: Ich unternahm einige Versuche, die Geschichte bei einem Verlag zu platzieren, bekam meine Manuskripte jedoch immer mit abschlägigen Bescheiden zurückgesandt. Normalerweise enthielten die beigefügten Briefe nur Standardfloskeln in dem Sinne von: »Ihr Märchen ist wunderbar! Leider passt es nicht in unser Programm. Deshalb senden wir es Ihnen zurück. Viel Glück.« Es gab auch ganz Fleißige wie Dr. Katrin Pieper vom Kinderbuchverlag Berlin. Sie schrieb: »… wir danken Ihnen für Ihr Angebot, glauben aber nicht, daß sich Ihr Manuskript für unser Programm eignet …« Soweit der Standardtext aus dem Automaten. Aber dann: »Dazu kommt, wir … sehen auch keine Notwendigkeit von der künstlerischen Kraft Ihres Angebots her, eine zweite Geschichte anzufordern.« Zwar war es sehr taktvoll von Frau Dr. Pieper mir nicht zu schreiben, ich sei ein literarischer Blindgänger, aber auch so hatte ich die Botschaft verstanden. Eine Kuriosität am Rande: Auch der Thienemann-Verlag, der nun die Rechte an dem Buch hält, lehnte das Manuskript, wie der untenstehende Brief (links) belegt, ursprünglich mit der branchenüblichen Floskel ab.
Wie der Drache fliegen lernte
Der Drache Gertrud lernte dann erst durch Michael Ende fliegen. Nachdem ich ihm 1992 nach einer Lesung ein in Karton eingebundenes Büchlein mit dem Märchen geschenkt hatte, bekam ich einige Wochen später wieder Post vom Stuttgarter Verlag K. Thienemanns. Nun besaß ich offenbar einen berühmten Mentor, denn diesmal lautete das Urteil des Verlages (vollständiger Brief oben rechts): »Es hat uns sehr gut gefallen … Haben Sie noch weitere Erzählungen oder gar Romane geschrieben, die nicht veröffentlicht sind?« Wie wohltuend sich diese Zeilen doch von jenen des Berliner Kinderbuchverlages unterschieden!«
Thienemann ist der älteste deutsche Kinder- und Jugendbuchverlag. Man kann sich vorstellen, wie nervös ich war, als ich in die Stuttgarter Blumenstraße zu einem Gespräch eingeladen wurde, um »weitere Erzählungen« - nämlich die erst zu einem Drittel fertige Neschan-Trilogie - vorzulegen. Während man schnell zu der Entscheidung fand, das phantastische Epos von Jonathan Jabbok mehrbändig herauszugeben, bereitete Der Drache Gertrud den Verlagsmitarbeitern anfangs noch einiges Kopfzerbrechen, weil die Geschichte für ein Bilderbuch zu lang, für einen Roman jedoch zu kurz war. Schließlich fand man in dem Konzept der »Bildergeschichte« den passenden Rahmen: Längere Textpassagen wechselten sich mit teils farbigen, teils in Schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen des renommierten Buchillustrators Bernhard Oberdieck ab. Am 1. März 1994 flog Gertrud dann endlich in die große weite Welt hinaus.
In seinem Brief an Ralf Isau drückt Michael Ende seine Freude über Gertruds Flugtauglichkeit aus.
Als ich Michael Ende in einem Brief für seine Starthilfe dankte, antwortete er mir (vollständiger Brief oben): »Ich freue mich natürlich, daß Ihr Drache nun fliegt und wünsche Ihrer Trilogie den schönsten Erfolg. Wie man sieht, gelingt es doch manchmal, jemand die Steigbügel zu halten.« Kurz nach der Veröffentlichung des Buches schrieb IGEL Das Magazin für junge Leute von der Jugendorganisation Bund Naturschutz über das Märchen: »Meiner Meinung nach eines der schönsten Kinderbücher der letzten Jahre.« Schon seltsam, wie unterschiedlich man ein Buch bewerten kann, nicht wahr, Frau Dr. Pieper?
Wie zäh Drachen sind
Drachen sind zähe Kreaturen, langlebig, dickfällig und nicht so schnell kleinzukriegen. Im August 1995 erschien bei Schumm Sprechende Bücher ein Hörbuch des Märchens für Kinder ab fünf Jahren. Während jedoch meine Neschan-Trilogie unter den guten Wünschen des großen Kollegen prächtig gedieh, setzte sich Der Drache Gertrud, nachdem die erste Auflage von 12.000 Exemplaren vergriffen war, zunächst zur Ruhe. Damit war Gertruds Flug jedoch nicht beendet. Es ist schon komisch, aber immer wieder sind mir, während ich die Entwicklung meiner Drachengeschichte verfolgte, Artverwandte aufgefallen, die einen ganz ähnlichen Lebenslauf vorweisen konnten. Nach dem Erscheinen von Gertrud feierten die Dinos im Hollywood-Streifen Jurassic Park Erfolge. Der Film lief aus, aber die Dinosaurier kehrten in neuen Folgen zurück. Beim Film Dragonheart war es ähnlich. Unter dem Titel Ein neuer Anfang kam die zweite Folge des erfolgreichen Films in die Kinos und genauso widerfuhr es auch meiner Gertrud. Der neue Anfang kam in ihrem Fall durch eine überarbeitete Neuauflage.
Die Sieben spielt in meinem schriftstellerischen Schaffen eine große Rolle. Nicht dass ich dem irgendeine besondere Bedeutung zubilligen würde (ich bin nicht abergläubisch), aber es sind nun einmal Tatsachen: Sieben Jahre habe ich an der Neschan-Trilogie gearbeitet, sieben Jahre dauerte es, bis aus der ersten Idee zum Kreis der Dämmerung und jahrelangen Recherchen eine vierbändige Saga wurde, und wiederum sieben Jahre gingen ins Land, bis Gertrud ein zweites Mal in den Literaturhimmel startete. Wieder war es März. Im Jahr 2000 erschien die von mir komplett überarbeitete Neuauflage, diesmal (leider) nur mit schwarzweißen Wiedergaben der wunderschönen Zeichnungen Bernhard Oberdiecks.
Neuauflage von 2000
Doch damit nicht genug. Ende März 2001 stand fest: Der Drache Gertrud avanciert zu einem Theatererfolg. Die Bühnenfassung stammt aus der Feder von Marc Gruppe, der unter anderem auch schon Charles Dickens dramatisiert hatte. Das Datum der Uraufführung im Staatstheater Braunschweig, der 23. November 2001, markiert einen neuen Meilenstein in der Lebensgeschichte der alten Drachendame. Viele weitere Bühnen haben sich inzwischen angeschlossen.
Last but not least hat der Drache Gertrud unter den geschickten Händen von Christel Marschalek inzwischen auch eine »Wiedergeburt« als Marionette erlebt. Die Erzieherin und Psychomotorikerin gestaltet in ihrer Freizeit wunderschöne Fadenpuppen (weitere Infos auf der Website des Hessischen Puppenmuseums).
Gertrud als Marionette
(© Copyright by Christel Marschalek 2002)
Übersetzungen
Die Übersetzung in der mit NEU gekennzeichneten Sprache befindet sich derzeit noch in Arbeit und werden demnächst erscheinen.
- Dänisch
- Estnisch
Wie man sieht, sind Drachen ziemlich zähe Biester. Aber manchmal auch ganz liebe.