Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Die Muse Toskana

Ralf Isau versteht es mit seinen Allegorien, Metaphern und Wortspielen und durch die Reihe der Sonette, die Wortgewalt der Sprache sichtbar zu machen. Die Mischung aus Spannung und bildhafter Philosophie lässt unwillkürlich an Michael Ende denken, mit dem er den Vergleich nicht scheuen muss.

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte ist zugegebenermaßen ein Buchtitel, der zum Stirnrunzeln animiert. Aber genau darum geht es in dem Phantagon, um die Verflüchtigung von Worten. Die Idee zu meiner »Pala« kam mir im Frühjahr 2000 während einer Reise durch die Toskana. In dieser geschichtsträchtigen Landschaft Italiens kauern zahlreiche Städte wie versteinerte Drachen auf Hügeln. Ob man nun durch die alten Gassen wandert oder die sanften Hügel der (zumindest im Frühling) grünen Landschaft durchstreift, glaubt man sich allerorten in einem Reich der Mythen und Legenden versetzt - so jedenfalls erging es mir. Jeder Baum, jedes alte Haus schien seine eigene Geschichte in sich zu tragen und nur darauf zu warten, dass jemand kommt, um sie zu befreien. Und so habe ich einem der Gemäuer vorsprochen, ihm den Gefallen zu tun. Es ist übrigens auf dem rechts gezeigten Umschlagentwurf zu sehen. Der Thienemann-Verlag hat meine Idee aufgegriffen und so entstand unter den geschickten Händen von Ludvik Glazer-Naudé der heutige Schutzumschlag.

Inhalt
Der Sprachdieb von Silencia

Ein sprachbegabtes Mädchen

In der Stadt Silencia gehen beunruhigende Dinge vor sich. Menschen verlieren ihre Sprache. Nein, sie werden nicht einfach stumm. Dann könnten sie ja noch schreiben und lesen. Aber auch dazu sind die, wie man meint, von einer bisher unbekannten Krankheit Befallenen nicht mehr fähig.

Zuerst trifft es Palas Freund, den alten Geschichtenerzähler Gaspare Oratore, aber bald werden immer mehr Bewohner Silencias von der unheimlichen Epidemie befallen. Nur wenige trifft es so hart wie den alten Gaspare, der überhaupt nicht mehr reden kann. Die meisten verlieren nur ein paar Worte, manche nur Silben. Und dennoch vollzieht sich mit dem Verlust der Sprache noch eine zweite Wandelung in der sonst immer so friedlichen Stadt. Die Menschen selbst verändern sich.

Pala ist ein Mädchen, das sein junges Leben lang nichts anderes kannte als das ständige Reden, Plaudern, Tratschen, Streiten und sich wieder Vertragen auf den Straßen Silencias. Sie selbst liebt Geschichten - das ist ein Grund, wenn auch lange nicht der einzige, weshalb sie den alten Gaspare so sehr mag. Manchmal erfindet sie auch eigene Fabeln und Märchen. Auch mit Rätseln und allerlei Wortspielen hat sich das ungleiche Paar gerne die Zeit vertrieben.

Miteinander Reden, das gehörte einfach zum Wesen der friedlichen Stadt Silencia, nein, das war Silencia. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, dann sprach man darüber und fand so meistens eine friedliche Lösung des Problems. Doch jetzt spricht man nur noch wenig miteinander. Es ist, als hätten es die Menschen verlernt. Und wenn sie sich doch äußern, dann sind sie meist kurz angebunden. Es kommt zu Missverständnissen. Streit ist neuerdings an der Tagesordnung in der Stadt.

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
(Thienemann-Erstausgabe von 2007)

Ralf Isau versteht es mit seinen Allegorien, Metaphern und Wortspielen und durch die Reihe der Sonette, die Wortgewalt der Sprache sichtbar zu machen. Die Mischung aus Spannung und bildhafter Philosophie lässt unwillkürlich an Michael Ende denken, mit dem er den Vergleich nicht scheuen muss.

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte
(Thienemann-Erstausgabe von 2007)

Realer Sprachverlust

Die seltsame Verflüchtigung der Worte ist eine alltägliche Realität. Wie in der Stadt Silencia des Romans äußert sie sich in einem schleichenden Zersetzungsprozess, der die zwischenmenschliche Kommunikation angreift, in der »Versinterung« der Alltagssprache zu beobachten ist und Sprachen buchstablich aussterben lässt. Weitere Hintergrundinfos zu diesem Thema finden Sie in einem Online-Essay von Ralf Isau. Klicken Sie hier!

Die Villa des Schweigens

Palas sprachloser Freund wird mit anderen Leidensgenossen in die »Villa des Schweigens« unter Quarantäne gestellt. Einige Wochen muss auch das Mädchen dort leben, weil man nicht sicher ist, ob sie sich beim alten Gaspare angesteckt hat. Obwohl zu den Erkrankten vor allem Menschen gehören, die sich beruflich oder privat viel mit der Sprache beschäftigen (Dichter, Literaturprofessoren, Zeitungsverleger, Lehrer usw.), scheint die im Rätsellösen und in Wortspielen so geschickte Pala gegen die Krankheit immun zu sein. Mit viel Geduld gelingt es ihr, dem Geschichtenerzähler eine neue Sprache beizubringen, die auf selbst gezeichneten Bildern statt auf Worten beruht. So erfährt sie von Gaspares furchtbaren Verdacht:

Auf dem Schlossberg Silencias ist vor einiger Zeit ein »Sohn der Stadt«, der erfolgreiche Industrielle Zitto eingezogen. Noch immer restauriert er das alte Gemäuer, das wie ein Drache über Silencia thront. Pala kennt das Gemunkel der Leute, mit Zittos Zitadelle stimme etwas nicht. Niemand habe bisher die Mauer, die den Schlossberg umgibt, passieren dürfen, selbst Handwerker nicht. Und trotzdem wächst stetig aus der Ruine eine neue Festung empor. Auch der Hausherr lässt sich nie blicken. Gleichwohl ist Zitto der größte Arbeitgeber Silencias, weswegen ihm kaum jemand sein geheimnisvolles Tun übel nimmt. Gaspare dagegen hält ihn für den Hauptschuldigen an der seltsamen Verflüchtigung der Worte.

Bei ihren Nachforschungen stößt Pala auf eine alte Sage. Da ist von Wortklaubern die Rede, kleinen Scheusalen, die einem bösen Herren dienten, um den Menschen die Worte abzusaugen. Natürlich hält Pala diese Geschichten nicht wirklich für wahr. Aber als die Wortarmut der Menschen Silencias immer mehr um sich greift und sich das Verhalten vieler zunehmend jenem von Tieren angleicht, als zuletzt sogar Palas eigene Familie zu zerbrechen droht, beschließt sie, dem Verdacht des alten Gaspare nachzugehen.

Sie versucht über die Mauer zu klettern, die Zittos Zitadelle umgibt, muss dabei aber eine sonderbare Entdeckung machen: Je weiter sie nach oben steigt, desto mehr entfernt sie sich von der Mauerkrone. Als sie sich endlich umblickt, befindet sie sich in schwindelnder Höhe. Der Steinwall scheint auf unerklärliche Weise gewachsen zu sein. Spätestens jetzt beginnt Pala zu dämmern, dass in Zittos Reich andere als die ihr bekannten Naturgesetze gelten. Wie sich schnell herausstellen wird, braucht sie mehr als Mut und Entschlossenheit, um Zitto und seinen Wortklaubern das Handwerk zu legen. Im Garten hinter der Mauer besitzen Worte große Macht und nur wer selbst ein Wortschöpfer ist, darf es wagen, sich den Mächten zu stellen, die sich gegen Silencia verschworen haben, um sie zu einer Stadt zu machen, in der die Stille regiert, Totenstille ...

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte – Layout
Von Ralf Isau erstellter Entwurf, der als Vorlage für den späteren Schutzumschlag diente (Juni 2000)

Pala, Taschenbuch Bastei Lübbe (2005)
Schöne Variation des Umschlags im Taschenbuch von Bastei Lübbe (2005)

Sprachen

  • Japanisch