Phoenix

Wie ich zum zweiten Mal einen Erstling schrieb

Jeder neue Roman von mir soll die Leser zum Staunen bringen. Ist das überhaupt möglich? Immerhin habe ich 2014 ein zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert: Seit 1994 sind unter dem Namen Ralf Isau 36 Bücher erschienen. Könnte ich mir nach zwei Jahrzehnten im Literaturzirkus noch neue Leserkreise erschließen? Manche hielten das für ausgeschlossen. Hauptsächlich solche, die berufsmäßig mit Literatur zu tun haben. Diese Profis sperren Autoren gerne in Schubkästen ein. Auf meine Archivbox haben sie »Fantasy« geschrieben. Manche halten mich auch für einen Science-Fiction-Autor. Nicht nur Amateure unter meinen Stammleser wissen mittlerweile, dass ich Phantagone schreibe: Romane, in denen jeder Leser eine andere Mischung literarischer Genres sieht.

Was konnte ich tun, um gleichsam aus dem Gefängnis meiner Schublade auszubrechen? Um mich einmal mehr neu zu erfinden? Um neue Leser unvoreingenommen in mein phantastisches Universum zu entführen? Um mir einmal keinen Kopf darum zu machen, ob meine Geschichte den Erwartungen entspricht, die Buchprofis den »Isau-Lesern« unterstellen? Mir fiel nur eine Lösung für diese knifflige Aufgabe ein.

Ich musste einen Roman unter Pseudonym veröffentlichen.

Als Künstlernamen suchte ich mir einen aus, der im Alphabet möglichst weit vorn steht: Jan Aalbach. Damit war ich jetzt wieder ein »unbeschriebenes Blatt«. Als solches konnte ich genauso unbeschwert fabulieren wie bei meinem Erstling, der Neschan-Trilogie. Es ist ein aufregendes Gefühl, zum zweiten Mal ein Erstlingswert zu schreiben.

Phoenix
Phoenix (Piper-Erstausgabe von 2014)

Ein Fernsehkoch, der mit seiner Nase sehen kann

Müsste ich den Plot meiner Geschichte in einem Satz zusammenfassen, läse der sich ungefähr so: Der Fernsehkoch Elias Meerbaum sucht auf einer abenteuerlichen Reise zwischen Jerusalem und Peking nach den Zutaten eines uralten Lebenselixiers, das nur finden kann, wer mit der Nase sieht, wo andere nicht einmal etwas riechen.

Diese Zusammenfassung war Ihnen jetzt doch zu kurz? Also schön. Dann lassen Sie mich etwas weiter ausholen:

Elias Meerbaum soll gegen seinen Willen ein uraltes Lebenselixier finden. Das Wundermittel nennt sich die »Asche des Phönix«. Nach alter Überlieferung kann die Phönixasche einem Menschen ewiges Leben und ein unbesiegbares Immunsystem schenken. Der totkranke Industriemagnat Henning von Bromberg erhofft sich davon Heilung. Elias nimmt von Bromberg nicht ernst. Er will seine Karriere nicht irgendeinem Hokuspokus opfern und lehnt ab. Selbst ein Honorar von zehn Millionen Euro kann ihn nicht umstimmen. Bis eine Reihe mysteriöser Vorfälle sein Leben auf den Kopf stellen.

Eine schreckliche Bluttat im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten droht seine Karriere zu zerstören. Die Polizei verdächtigt den erfolgsverwöhnten TV-Star, wie ein Raubtier über zwei Hotelangestellte hergefallen zu sein. Er soll einem Zimmermädchen den Hals aufgerissen haben. Die Ärzte können die Frau nicht retten.

In der Vergangenheit hat sich Elias mit seinen zahlreichen Macken nicht nur Freunde gemacht. Seine Angst vor ansteckenden Krankheiten führt immer wieder zu Missverständnissen. So gibt er nur selten jemandem die Hand. Einige halten ihn nur für verschroben. Andere unterstellen ihm die typische VIP-Arroganz. Der Weltenbummler Elias Meerbaum ist nämlich einer der beliebtesten Fernsehköche Deutschlands.

Er sieht aus wie Mitte dreißig, doch sein wahres Alter kennt nicht einmal er selbst. Vor achtzehn Jahren hat ihn ein Apotheker in verwirrtem und zerschundenem Zustand am Blankeneser Elbstrand aufgelesen. Elias besitzt nur wenige bruchstückhafte Erinnerungen an sein Leben davor. Täglich wundert er sich aufs Neue, wie gut er sich mit Gewürzen, Duftstoffen und deren Geschichte auskennt. In seinem Gedächtnis schlummert das Wissen von Jahrtausenden. Erstaunlicher noch als sein Erinnerungsarchiv sind seine besonderen Gaben.

Elias besitzt den absoluten Geschmack: Seine Zunge kann von allem Genießbaren sämtliche Ingredienzien in der exakten Menge schmecken. Geradezu übernatürlich erscheint sein Geruchssinn. In gewisser Weise sieht seine Nase, wie ein Duft entstanden ist. Bei Leichengeruch könnte Elias erkennen, wann, wo und wie der Betreffende zu Tode gekommen ist. Einem Wein riecht er an, wo der edle Tropfen herkommt, wann er geerntet und wie er gekeltert wurde. Dieser Fähigkeit verdankt Elias Einblicke in den Hotelmord, die selbst die Spurensicherung der Polizei nicht besitzt: Eine gnomenhafte, krallenbewehrte Gestalt, die nicht einmal menschlich zu sein scheint, hat das Zimmermädchen und den Hotelpagen so schrecklich zugerichtet.

Ein weiterer mysteriöser Vorfall rückt das obskure Angebot des todgeweihten Milliardärs in ein neues Licht: Im Hotelzimmer sticht Elias eine Anophelesmücke. Im Tropeninstitut untersucht ihn die Ärztin Doktor Xi Huang. Er meint, die bildschöne Chinesin zu kennen, kann sich aber nicht erinnern woher. Ihr seltenes Parfüm hat dieses Gefühl heraufbeschworen. Die Diagnose der Ärztin ist niederschmetternd. Die Mücke hat Elias mit einem hoch aggressiven Malaria-Erreger infiziert. Er könnte daran sterben.

Wenige Stunden später plagt ihn ein Albtraum: Ein gnomenhafter, krallenbewehrter Wicht versucht in sein Schlafzimmer einzudringen. Elias verwandelt sich darauf in ein Mischwesen aus Bär und Mensch. Als wutschäumender Berserker vertreibt er den Eindringling. Von Fieber geschwächt erwacht Elias. Er findet er sich in einem völlig zerstörten Zimmer wieder. Ein Malariaanfall hat ihn niedergeworfen. Hat er tatsächlich alles nur geträumt?

Mit der Hilfe von Doktor Xi kommt Elias wieder auf die Beine. Schon um seiner selbst willen willigt er nun in das Angebot Henning von Brombergs ein. Für die Asche des Phönix gibt es keine Rezeptur mit gewöhnlichen Mengenangaben. Wer sie herstellen will, muss zunächst einige geheimnisvolle Verse deuten, geheimnisvolle Worte wie diese:

Von Galgenwurz musst so viel nehmen,
Das Pantheon zu füll’n mit Götterduft,
Damit die edlen Rösser flehmen,
Wenn Fürsten reiten in die Gruft.

Offenbar bedarf es eines so außergewöhnlichen Geschmacks- und Geruchssinns wie Elias sie hat, um die vergessene Rezeptur Phönixasche zu enträtseln. Hierzu muss er zum wahren Kern uralter Mythen vorstoßen.

Der Hinweis auf ein sagenhaftes Lebenskraut führt ihn nach Jerusalem. In der Heiligen Stadt gerät Elias ins Fadenkreuz eines anderen »Schatzjäger«. Der Unbekannte tötet jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Einmal mehr gerät Elias unter Mordverdacht. Er flieht ans Tote Meer zu den Beduinen.

Vom Negev aus führt ihn seine Suche immer weiter nach Osten. In einer scheinbar ausweglosen Lage kommt ihm plötzlich Doktor Xi zu Hilfe. Henning von Bromberg habe sie geschickt, erklärt sie Elias. Er ist hin- und hergerissen. Einerseits fühlt er sich zu der schönen Chinesin hingezogen, andererseits scheint ihm etwas zu verschweigen. Kann er ihr trauen?

Gemeinsam suchen die beiden an mythischen Orten nach den Ingredienzien der Phönixasche. Ihre abenteuerliche Reise führt sie quer durch Asien bis nach China. Bald zeigt sich, dass es für die zwei auch eine Reise in die eigene Vergangenheit ist. Offenbar verbindet sie und die Asche des Phönix ein unglaubliches Geheimnis. Eines, für das die Menschheit noch nicht reif ist.

Der Stoff, aus dem die Mythen sind

Der Stoff, aus dem ich mein Zweitdebüt gewebt habe, ist uralt. Überall auf der Welt gibt es Geschichten, Märchen, Legenden und Sagen über die Unsterblichkeit. Die Bandbreite reicht vom Lebensbaum, Lebenswasser und Lebenskraut bis zum Jungbrunnen und dem Stein der Weisen. Einige Lebenselixiere schmecken wohl so scheußlich, dass sie sogar Tote auferwecken. Ein Popstar unter den Unsterblichen ist der mythische Vogel Phönix, der aus seiner eigenen Asche immer wieder aufersteht.

Bei meinen Recherchen stieß ich auf ein faszinierendes Buch aus dem Jahr 1905. In seinem Werk Die Sagen vom Lebensbaum und Lebenswasser, altorientalische Mythen berichtet August Wünsche über altorientalische Überlieferungen rund um die Unsterblichkeit. Wenn sich so viele Mythen um ein und dieselbe Vorstellung ranken, liegt die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs nahe. Über die abenteuerliche Suche nach diesen Anfängen wollte ich einen Roman schreiben.

Warum ausgerechnet Aalbach?

Warum habe ich mich ausgerechnet Jan Aalbach genannt? Abgesehen von der alphabetischen Einordnung fällt mir dafür keine rationale Erklärung ein. Vielleicht hatte ich ja insgeheim gehofft, all jenen, die mich in einen Schubkasten einsperren wollen, aalglatt durch die Finger zu witschen. Das herauszufinden überlasse ich den Literaturwissenschaftlern späterer Generationen.

Übrigens: Das Pseudonym Aalbach klingt wie ein Kunstwort. Ist es aber nicht. Es gibt tatsächlich mehrere fließende Gewässer, die so heißen. Wer’s nicht glaubt, dem sei ein Ausflug in die Wikipedia empfohlen.