Sprachverlust im Alltagsleben 

Fakten zum Roman »Pala und die seltsame Verflüchtung der Worte«
Sprachverlust - Inwiefern?

Sprachschwund in der Werbung
Sprachschwund in der Werbung
(© »Die Woche«, 8.3.02)

In meinem Roman Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte geht es um Sprachverlust. Das hört sich zunächst sehr plakativ an. Unter dem Begriff »Sprachverlust« kann man alles Mögliche verstehen. Die Bildersprache des Romans möchte nicht das Schicksal jener bedauernswerten Mitmenschen beschreiben, die infolge eines schweren Unfalls oder einer Krankheit plötzlich verstummen. Vielmehr geht es in dem Buch um drei Formen des Sprachschwunds, die jeder, der mit wachen Augen durch die Welt geht, beobachten kann:

Sprachschwund in der Werbung
Sprachschwund in der Werbung
(© »Die Woche«, 8.3.2002)

Der Rückgang zwischenmenschlicher Kommunikation

In meinem Roman Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte beschreibe ich den Sprachschwund als einen auf wenige Jahre verdichteten Prozess. Mit dieser überspitzten Darstellung wollte ich die von mir als Folgen oder Begleiterscheinungen des Sprachschwundes begriffenen gesellschaftlichen Phänomene herausschälen. Die seltsame Verflüchtigung der Sprache zeigt sich meiner Meinung nach besonders deutlich am Rückgang der zwischenmenschlichen Kommunikation. Diese Entwicklung zieht wiederum andere Probleme nach sich. Der Sprachschwund wirkt gewissermaßen erodierend auf zwischenmenschliche Kontakte wie Ehen, Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften, Nachbarschaften usw. Längere und tiefere Gespräche werden immer seltener geführt - man meint dafür keine Zeit mehr zu haben. Die zersetzenden Folgen solcher Nachlässigkeit werden nicht immer sofort sichtbar. Es kann Jahre dauern, bis eine Partnerschaft soweit erodiert ist, dass sie wie ein morsches Holzhaus in sich zusammenstürzt.

Muskelschwund wird durch Bewegung therapiert. Mit der Sprachverarmung ist es ganz ähnlich. Man muss seine Gesprächsfähigkeit trainieren. Der Gedanke an ein richtiges Gespräch mag den Ungeübten schrecken. Aber man kann diese Kunst lernen und wird staunen, wie viel sie einen geben kann, wenn man sie erst beherrscht. Voraussetzung ist das Interesse an seinem Gegenüber und die Bereitschaft, den Anderen zu respektieren und ihm zuzuhören, anstatt nur von sich selbst zu reden. Wie lohnend solche Mühe ist, zeigte mir ein Zeitungsartikel, den ich am 9. August 2001 in der Ludwigsburger Kreiszeitung fand. Unter dem Titel »Seit sieben Jahrzehnten ein glückliches Ehepaar« wurde da von den Heubachs berichtet, die gerade ihre Gnadenhochzeit feierten. Auf die Frage nach dem Erfolgsrezept ihrer glücklichen Ehe antwortete die 87-Jährige: »Immer miteinander reden, das ist das Allerwichtigste. Wenn man nicht sagt, was los ist, wird man nur noch wütender.« Die Eheleute hätten immer alle Probleme angesprochen, heißt es in dem Artikel weiter, und sich auch mal gestritten. Aber anschließend war alles wieder im Lot. Ein, wie ich finde, ehrliches und sicher überzeugendes Plädoyer für einen regen Gedankenaustausch.

Je früher man der Sprache einen Weg ebnet, desto besser ist es. Forscher an der Universität von Nordkarolina wiesen nach, dass bereits »Fetusse auf Stimmen physiologisch reagieren«. Gemäß einem Artikel der Winnipeg Free Press haben sie »festgestellt, dass Neugeborene, deren Mutter ihnen während der Schwangerschaft vorgelesen hatte, reagierten, wenn ihnen die betreffenden Passagen nach der Geburt erneut vorgelesen wurden«. In einer Zeit der Diskussionen über den zunehmenden Werteverfall erscheint es bemerkenswert, wie wichtig die (An)Sprache des Kindes für die Vermittlung von Wertmaßstäben sogar schon während der Schwangerschaft ist. Gemäß anderen Forschungen macht die Entwicklung des Gehirns von Kindern unter drei Jahren besonders schnelle Fortschritte. Ihre Fähigkeit, zu denken, zu schlussfolgern und Probleme zu lösen, wird kolossal gefördert, wenn man zu ihnen spricht. Wie die Zeitung International Herald Tribune berichtet, sind einige Forscher zu der Überzeugung gelangt, dass »die Menge der Wörter, die ein Säugling täglich hört, der wichtigste Indikator für Intelligenz, Erfolg in der Schule und soziale Anpassungsfähigkeit im späteren Leben ist«. Allerdings müsse es eine Person sein, die spricht. Der Fernseher, das Radio - oder ein Papperla-Pappagei wie in der Geschichte von Pala und der seltsamen Verflüchtigung der Worte - ist anscheinend kein Ersatz. Ein Neurowissenschaftler an der Universität von Washington in Seattle (USA) erklärte dazu: »Inzwischen wissen wir, dass die Vernetzung der Nervenzellen sehr früh im Leben eines Babys erfolgt und dass sein Gehirn buchstäblich auf Eindrücke wartet, die dann entscheidend dafür sind, welche Vernetzungen zustande kommen. Erst vor kurzem wurde uns bewusst, wie früh dieser Prozess beginnt. So haben zum Beispiel Babys die Laute ihrer Muttersprache bereits im Alter von sechs Monaten erlernt.« Die Forschung stellt die weitverbreitete Meinung in Frage, Babys würden allein dadurch intellektuell Fortschritte machen, dass man sie mit Liebe überschütte. Man betont zudem die wichtige Rolle der Eltern bei der Entwicklung des Kindes.

Weil in den ersten Kindheitsjahren die  Weichen fürs ganze spätere Leben gestellt werden, empfehlen viele Experten den Eltern, ihren Kindern laut vorzulesen. Im Arm der Mutter oder des Vaters einen gefühlvoll gelesenen Text zu hören und nebenbei noch gestreichelt zu werden, weckt nicht nur die Liebe zum Buch, sondern kann darüber hinaus die Eltern-Kind-Bindung nachhaltig festigen. Das frühzeitige Erlernen des Umgangs mit Sprache dürfte nicht unwesentlich die spätere Denkfähigkeit, geistige Flexibilität und natürlich die Sprachgewandheit des Kindes beeinflussen. In Ihrem Buch Babies Need Books stellt Dorothy Butler fest: »Wie gut jemand denken kann, wird davon abhängen, wie gut er die Sprache beherrscht. Wenn es um Lernen und Intelligenz geht, steht oder fällt in Wirklichkeit alles mit der Sprache.« Ich persönlich vertrete den Standpunkt, Kindern nicht nur irgendetwas vorzulesen oder zum Lesen zu geben. Das Vorlesen und Lesen ist, wenn man dem Werk 3 Steps to a Strong Family glauben kann, ein prägender Prozess. Dort wird behauptet: »Kinder von heute nehmen durch das Fernsehen und andere Quellen so viel mentalen Müll in sich auf, dass sie mehr denn je etwas brauchen, womit sie ihren Sinn ernähren können, klare Gedanken, weisen Rat, einen festen Halt, der ihnen hilft, ihren Wertvorstellungen entsprechend zu leben und ihr Leben aus dem richtigen Blickwinkel zu sehen.« Ähnliche Gedankengänge bewogen mich einst dazu, für meine Tochter ein Buch zu schreiben, das zweierlei kindliche Bedürfnisse befriedigt: Es musste spannend sein, aber es sollte auch positive Werte vermitteln. So entstand die Neschan-Trilogie. In diesem Sinne gute Bücher zu lesen oder  vorzulesen, kann die Kinder in ihren Wertvorstellungen und hohen Sittenmaßstäben bestärken. Wenn das Lesefutter zugleich sprachlich anspruchsvoll ist, wird zudem die Fähigkeit gefördert sich schriftlich und mündlich auszudrücken, was, wie mir scheint, heute wichtiger denn je ist. Und damit kommen wir auch schon zum zweiten Aspekt des Sprachschwunds.

Das Schwinden der Sprachvielfalt

Ich spreche viel mit jungen Menschen und ich höre ihnen interessiert zu. Wenn sie sich untereinander austauschen, dann habe ich bisweilen Probleme, bestimmte Lautgebilde (ich bin mir nicht ganz sicher, ob es sich in jedem Fall um Worte handelt) zu verstehen. Im direkten Gespräch zwischen Erwachsenen und Jugendlichen reduziert sich der Slang meist auf eine Restmenge besonders eingeschliffener Begriffe. Mich beunruhigt nicht so sehr die Tatsache, dass scheinbar jede neue Generation ihr eigenes Vokabular entwickelt. Vielleicht ist das hilfreich, wenn man nach einer eigenen Identität sucht. Die Kluft zwischen den Generationen wird dadurch, wie ich finde, nicht unbedingt schmaler, doch erscheint mir der Wille zur Gemeinsamkeit wichtiger als ein identischer Wortschatz. Nein, was mich wirklich beunruhigt, ist die Versinterung der Sprache. Unter »Sintern« versteht man in der Technik das Zusammenbackenlassen durch Erhitzung. Die Schnellebigkeit unseres heutigen Lebens sorgt gewissermaßen für die Hitze. Und die Vielfalt der Sprache backt dabei zusammen. Viele Worte, die zwar noch im Duden stehen, sind uns fremd geworden. Würden all diese Begriffe buchstäblich verblassen, sähe das Standardwerk zur deutschen Sprache womöglich bald genauso aus, wie eine ganzseitige Zeitungsanzeige, die mir im Frühjahr 2002 untergekommen ist.

Mancher sieht in der Werbung einen Indikator für gesellschaftliche Trends und macht sich seinen eigenen Reim darauf, wenn für Produkte mit lügenden und betrügenden Protagonisten geworben wird. Ich erinnere mich an einen Mercedes-Benz-Fernsehspot, in dem es der Held dank schwäbischem Hightech schaffte, seine Geliebte bei Schnee und Eis unversehrt zu erreichen, während seine Frau zu Hause mit ihren Sorgen leer ausging. Diesem zweifelhaften Schema folgend setzte der Automobilhersteller am 8.3.2002 besagte Anzeige in Die Woche, die sichtbar machte, was der Sprachschwund für uns bedeuten mag (für eine Kostprobe klicken Sie auf das nebenstehende Bild). Ein Großteil des zerstümmelten Textes war nur für Verschlüsselungsexperten und eingefleischte Rätsellöser zu entziffern. Ich fühlte mich durch die Anzeige unwillkührlich an den Silbenschwund erinnert, dem sich Pala in meinem Roman gegenübersieht.

Ich fürchte, durch die Versinterung der Sprache geht die Fähigkeit zu differenzieren immer mehr verloren. Wenn - nur um ein Beispiel zu nennen - alles, was uns irgendwie gefällt, nur noch cool ist, dann sind wir eigentlich arm dran. Wir meinen vielleicht schrill, toll, klasse, prima, hervorragend, blendend, wunderbar, schön, lieblich, herrlich, vielleicht sogar kühl ... Aber uns fällt nichts weiter ein, als cool. Schlagworte dominieren mehr und mehr über sinnreiche Erklärungen. Je kürzer, desto besser, ist die Devise. Gespräche mit Lehrern und Ausbildern von Wirtschaftsunternehmen haben meinen Verdacht erhärtet: Immer mehr Jugendliche haben Schwierigkeiten sich richtig auszudrücken. Es fällt ihnen schwer, ihre Vorstellungen in Worte zu fassen. Wie sollen sie das auch lernen, wenn zu Hause kaum noch miteinander gesprochen wird? Unter Gleichaltrigen finden sie oft nur Leidensgenossen. Warum nicht die Altersbarriere überspringen und ein Gespräch mit Älteren führen? Auch gute Literatur vermag den eigenen Wortschatz anzureichern - man muss nur den festen Willen besitzen, die gefundenen Sprachjuwelen auch anderen zu zeigen, neue Worte auszusprechen oder auch schriftlich zu gebrauchen.

Das buchstäbliche Aussterben ganzer Sprachen

Im Roman Pala erfährt unsere Heldin, dass es zu den größten Triumphen des Bösewichts Zitto gehört, wenn er eine ganze Sprache ausrotten kann. Diese unglaubliche Boshaftigkeit hat einen wahren Hintergrund: Sprachen sterben tatsächlich aus. Nein, hier ist nicht die Rede von Akkadisch oder irgendeiner anderen Sprache eines längst untergegangenen Volkes, sondern von heute noch lebenden Sprachen, die ebenso vom Aussterben bedroht sind wie viele Tierarten. Ein Beispiel für diese Besorgnis erregende Entwicklung ist in Brasilien zu beobachten. Einem Bericht der brasilianischen Zeitung Folha de S. Paulo aus dem Jahr 2001 zufolge sollen im Rahmen eines gemeinsamen Projekts, das Brasilien zusammen mit Deutschland durchführt, viele einheimische brasilianische Sprachen dokumentiert und festgehalten werden, um sie so vor dem unwiderbringlichen Verschwinden zu retten. Forscher hoffen, die Sprachen Trumai, Aweti und Kuikuro dadurch erhalten zu können, dass sie eine digitale Datenbank mit Texten und Lauten erstellen. Nur 180 der ursprünglichen 1200 einheimischen Sprachen haben laut dem Linguisten Aryon Rodrigues überlebt. Von diesen werden mindestens 50 von weniger als 1000 Menschen gesprochen. Eine Sprache - Maku - wird sogar nur noch von einem einzigen Mann gesprochen, einem zum Zeitpunkt der Meldung 70-jährigen Witwer im Norden Brasiliens. Wie Rodrigues sagt, ist die Erhaltung der einheimischen Sprachen wichtig, um die Traditionen eines Volkes zu erhalten. Zweifel sind angebracht, ob die Digitalisierung einer Sprache ausreicht, um die in Traditionen und anderen kulturellen Ausdrucksformen manifestierte Identität eines Volkes zu bewahren. Unter der Überschrift »Wortschatz in Gefahr« schrieb bereits im Jahr 2000 das Magazin Geo Wissen in seiner Ausgabe Nr. 25: »Sprachen erlöschen seit eh und je. Besorgnis erregend ist für Gunter Senft von der deutschen Gesellschaft für bedrohte Sprachen jedoch das Tempo, mit dem diese Entwicklung neuerdings vonstatten gehe. ›Vorsichtig geschätzt sind‹, so der Wissenschaftler, ›von den etwa 6000 Sprachen, die derzeit weltweit existieren, zwei Drittel bedroht.‹

Fazit

Der Sprachschwund ist ein vielfältiges Problem unserer Zeit. Er drückt sich in der mangelnden Fähigkeit zum Gedankenaustausch ebenso aus wie in der Versinterung und im buchstäblichen Aussterben von Sprache. Der Roman Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte möchte die Freude am Gedankenaustausch neu entfachen und die Vorstellung von der Sprache als einen großer Schatz vermitteln, den man - im Gegensatz zu Kronjuwelen - jedem zeigen, ja, den man sogar mit seinen Mitmenschen teilen kann und es auch sollte.