Messias
Die Story
Im Süden Irlands sorgt ein mysteriöses Ereignis für helle Aufregung. Der 103-jährige Seamus Whelan ist am Gründonnerstag in der Duiske Abbey von Graiguenamanagh von einem Lichtblitz geblendet worden. Als er wieder sehen kann, liegt vor dem Altar ein Mann, der mehr tot als lebendig erscheint. Der Unbekannte ist schwarzhaarig, bärtig, Anfang dreißig, und er ist nackt. An seinen Händen und Füßen klaffen offene Wunden, als habe ihm jemand Nägel hindurchgetrieben. Schwach ruft er um Hilfe. Auf Hebräisch! Fast noch merkwürdiger ist, dass an dem Kruzifix, das gleich daneben steht, die Jesusfigur fehlt. So als sei der blutende Mann gerade von dem silbernen Kreuz gestiegen.
Im modernen Informationszeitalter verbreiten sich Nachrichten tausendfach schneller als im Palästina des ersten Jahrhunderts. Während der Verletzte noch in die Notaufnahme des St Luke′s Hospital in Kilkenny eingeliefert wird, trifft in der einst größten Zisterzienserabtei der Grünen Insel bereits das erste Fernsehteam ein. Spekulationen schießen ins Kraut. Ist der Heiland in die Welt zurückgekommen? Nicht wenige fromme Iren sind davon überzeugt, denn schon in der folgenden Nacht kommt es zu weiteren Funden, die scheinbar nur mit dem Wirken übernatürlicher Kräfte erklärbar sind: Im näheren Umkreis des Ortes werden zwei Leichen entdeckt. Es sieht aus, als habe ein himmlisches Feuer die Männer niedergestreckt, die man in Graiguenamanagh als notorische Sünder kennt. Schnell macht das Wort vom Jüngsten Gericht die Runde. Nach christlicher Auffassung folgt der Jüngste Tag nämlich auf die Parusie, die Wiederkunft Christi. Sind die beiden Toten die ersten, die vom göttlichen Strafgericht hingerafft wurden?
Während in der Kirchenführung ein heftiger Streit darüber entbrennt, wie man mit dem »Wunder von Graiguenamanagh« umzugehen hat, gerät der Messias, ob nun echt oder falsch, binnen Stunden zum Medienstar. Ein Strom von Pilgern setzt sich in Bewegung. Sie wollen den Heiland oder wenigstens den Ort seiner Rückkehr als Mensch sehen und erhoffen sich einen Logenplatz im Falle weiterer spektakulärer Wunder. Um der brisanten Situation Herr zu werden, entsendet der Vatikan einen Ermittlungsexperten nach Irland.
Monsignore Hester McAteer hat sich in der »Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse« mit der Entlarvung falscher Wunder einen Namen gemacht. Da er und seine Kollegen bei der Anerkennung neuer Heiliger oft als Zünglein an der Waage fungieren, nennt man sie die »Wundermacher« und McAteer im Besonderen »den schärfsten Kettenhund Seiner Heiligkeit« oder schlicht den »Bullterrier«. Er hat einen Teil seiner Kindheit in »Graig« verbracht, scheint nach Auffassung seiner Vorgesetzten also besser als jeder andere für diesen speziellen Job geeignet zu sein. Was die Kirchenoberen allerdings nicht wissen – er hat hier noch ein paar »Leichen im Keller«. Eines dieser unbewältigten Probleme, denen er sich nun stellen muss, ist die Affäre mit Fiona Sullivan. Zu Beginn seiner geistlichen Laufbahn hatte er sich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt, sich dann aber gegen seine Gefühle und für die Laufbahn in der Kurie entschieden – das Keuschheitsgelübde inbegriffen. Fiona lebt immer noch in Graig und ist inzwischen eine gefeierte Künstlerin.
Die Duiske Abbey in Graiguenamanagh war einst die größte Zisterzienserabtei Irlands (Foto: © Ralf Isau 2008).
Die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit gerät für Hester zur Zerreißprobe, während er zusammen mit dem intelligenten jungen Ordensbruder Kevin O’Connor in dem Fall ermittelt. Der vatikanische Sonderbeauftragte hält das Wunder von Graiguenamanagh für einen makabren Schabernack. Doch seine anfängliche Selbstsicherheit gerät zunehmend ins Wanken, als immer mehr mysteriöse Vorfälle sich aneinander reihen.
Dem weltläufigen Monsignore aus Rom kommt der Heimatort anfangs wie ein Freiluftmuseum für Sonderlinge vor. Für jede menschliche Skurrilität, die in Irland frei herumläuft, scheint es in Graig einen Prototypen zu geben. Und Abends treffen sie sich alle in Mick Ryan's Pub oder gleich um die Ecke bei »M Doyles«. Um bei den Ermittlungsarbeiten überhaupt voranzukommen, muss Hester wieder ein Teil jener dörflichen Gemeinschaft werden, der er einst den Rücken gekehrt hat. Diese Annäherung, die eigentlich eine Rückkehr ist, lässt in ihm die Überzeugung reifen, dass hier jemand ein Netz aus Rätseln gesponnen hat, in das ihm die Rolle der Fliege zugedacht ist.
Entstehung: Eine provozierende Frage
Wie lange könnte Jesus Christus wohl überleben, wenn er heute wiederkäme? Diese Frage stand zwar nicht am Beginn meiner Überlegungen, doch sie stellte sich mir unweigerlich, als ich Anfang 2006 mit den Planungen zu einem Roman über Wunder begann. Nicht über jene Naturvorgänge wollte ich schreiben, bei denen selbst eingefleischten Atheisten voller Staunen, das Wort »Wunder« über die Lippen kommt – der Empfängnis, Entwicklung und Geburt eines Kindes etwa –, sondern über Vorgänge, die ihre Beobachter sofort in zwei Lager spalten, in hysterische Anhänger und »Scharlatanerie!« schreiende Gegner. Gemeint sind also zunächst Vorkommnisse, wie sie in Lourdes, Fatima oder anderen Pilgerstätten regelmäßig zu Massenaufläufen führen. Doch da gibt es ja noch jene anderen mirakulösen Geschehnisse, die im Laufe von Jahrhunderten immer wieder große Künstler zu Werken inspiriert haben, vor denen man einfach dahinschmelzen möchte, ungeachtet, welcher Weltanschauung man sonst den Vorzug gibt. Gemeint sind die in der Bibel beschriebenen Wunder. Von Jesus etwa wird berichtet, er habe Kranke geheilt, Tote auferweckt, Tausende mit ein paar Broten und Fischen gespeist, die Naturgewalten zur Ordnung gerufen oder übers Wasser wandeln können. Wenn so jemand im Zeitalter der Massenmedien vor die Öffentlichkeit träte, sich womöglich sogar Jeschua nennen würde – das ist die hebräische Form des griechischen Namens Iesus –, wenn mit seinem Erscheinen wundersame Dinge einhergingen und er die geistlichen Führer unserer Tage genauso scharf angriffe, wie vor 2000 Jahren der Nazarener die Pharisäer und Oberpriester verurteilt hat, was würde dann passieren? Diese Thematik in einen Thriller zu verpacken, war eine Herausforderung, der ich nicht zu widerstehen vermochte.
Weil ich mit der Idee zum Roman bereits schwanger ging, während ich am Roman Die Dunklen arbeitete, verwundert es nicht, wenn sich wieder einmal Querverbindungen einstellen, wie meine Stammleser es aus dem Universum des Ralf Isau ja seit Jahren kennen. Sarah d'Albis, die Protagonistin in dem 2007 erschienen Roman über die Farbenlauscher, bekommt im Messias eine Nebenrolle und die Hauptfigur hier, Hester McAteer, hat auch schon einen kleineren Part in den Dunklen gespielt. Es gibt noch einen Link zu einem anderen meiner Romane, der wird aber nicht verraten.
Zum Wesen meiner Phantagone hat stets die akribische Recherche der Wirklichkeitsbezüge gehört. Das ist beim Messias nicht anders gewesen. Um den Schauplatz der Handlung möglichst realitätsnah schildern zu können, bin ich mit meiner Frau im Juni 2008 nach Irland gereist. Dort durften wir im Haus einer Nachfahrin des berühmten irischen Adelsgeschlecht der Butlers wohnen, während wir in Graiguenamanagh auf Spurensuche gingen. Der Wollmühlenbesitzer Philip Cushendale (auf nebenstehendem Foto rechts) zeigte uns sein »Graig«, er führte uns in die Pubs, die tagsüber nur wie Gemischtwarenläden aussehen und von gewöhnlichen Touristen eher selten frequentiert werden. Philip war der ideale Führer für uns: ortskundig, belesen, intelligent, kreativ, mit allen irgendwie bekannt oder verwandt und immer gut aufgelegt. Ihm haben wir es auch zu verdanken, das von Captain Casey gestiftete Kruzifix, das im Roman eine besondere Rolle spielt, genauer untersuchen zu dürfen – normalerweise wird es für Besucher der Duiske Abbey unzugänglich in einem Tresor aufbewahrt (mehr dazu im Kasten rechts).
Nicht wenige der irischen Originale, die im Roman beschrieben werden, existieren wirklich. Molly etwa, die mit neunzig Jahren immer noch jeden Abend im Pub ihren Brandy und ihr Guinness trinkt, hat sich ebenso für den Schriftsteller aus Deutschland interessiert wie er für sie (siehe Foto). Auch der etwas sonderliche Zeitgenosse, der sich um das leibliche Wohl der Feen von Graig kümmert, ist echt. Menschen wie diese haben zweifellos dazu beigetragen, dem Roman eine ganz besondere Note zu verleihen, das gewisse irische Flair eben, das einem kein Reiseführer vermitteln kann.
Captain Casey's Kruzifix
Im Tresor der Dusike Abbey wird ein silbernes Kruzifix aufbewahrt, um das sich eine interessante Legende rangt. Ein gewisser Captain James Casey erlitt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Schiffbruch. In aussichtsloser Lage betete der Seemann zu Gott und gelobte, der »Kapelle von Graig« im Falle seiner Rettung ein großzügiges Dankopfer darzubringen. Er überlebte tatsächlich und hielt sein Versprechen. Das »Opfer« ist ebenjenes Silberkreuz, das im Roman Messias die vielleicht wichtigste Requisite ist. Dankenswerterweise durfte der Autor das Objekt genauer in Augenschein nehmen und fotografieren. Auf der Rückseite hat sich der Spender mit folgenden Worten verewigt:
The
GIFT
of
Captain James Casey to the Chapel of Graigue
1775
Das Kruzifix des Captain James Casey in der Sakristei der Duiske Abbey (Foto: © Ralf Isau 2008)
Messias
Piper-Taschenbuch (2010)
Sprachen
- Holländisch