Das Allerweltshaus
Die Idee:
SUUM CUIQUE
Schon Albert Einstein stellte fest: »Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.« Wer als Leser zwischen 1994 und 2018 das Universum des Ralf Isau durchstreift hat, kennt diese Grenzenlosigkeit der Phantasie. Geheimnisvolle Schauplätze haben mich seit eh und je fasziniert. Selbst wenn ich mich mit unserer Erde als Bühne für meine Geschichten begnügte, wählte ich dafür oft mythische Orte. Man denke nur an Elias Meerbaums Suche nach dem Lebenselixier im Roman Phoenix.
Natürlich, Sie wissen das, leide auch ich unter der typischen Berufskrankheit von Autoren der Phantastischen Literatur: Ich bin ein leidenschaftlicher Weltenbauer. Aus dieser Passion heraus entstand der Kosmos von Neschan, zu dem auch die Welten Mirad und Berith gehören. Oder Quassinja, das Reich der verlorenen Erinnerungen. So manche Landschaft aus meinen Romanen hätte das Specialeffects-Team moderner Blockbuster ganz schön ins Schwitzen gebracht. Aber eines hatte ich bei aller Vielfalt bisher noch nie gewagt:
Einen Kosmos erschaffen, der sich in einem Haus befindet?, grübelte ich. Oder: Ein Bauwerk, das eine ganze Welt umfasst. Nein, noch besser: Ich erschaffe ein lebendiges, sich ständig veränderndes Haus mit einem eigenen Bewusstsein, das niemand verlassen kann, ohne zugleich seine Welt zu verlassen. Dieser Ideen-Dreisprung markierte im November 2011 die Geburtsstunde des Romans Das Allerweltshaus.
Das unsichtbare Haus
So erklärt sich auch der eigenwillige Titel meiner Geschichte. Das Allerweltshaus ist eben kein Feld-Wald-und-Wiesenhaus, wie man nach einem flüchtigen Blick in den Duden denken könnte. Der Romantitel ist wörtlich gemeint: Alles ist die Welt des Hauses. Deshalb nennen es seine Bewohner auch oft nur Weltenhaus.
Über die Natur des Allerweltshauses möchte ich hier nicht allzu viel verraten. Nur so viel: Es wächst und gedeiht durch ein ständiges Wechselspiel mit unserer Welt. Darauf spielt der weise Hutmacher Davár an, als er den Geschwistern Jan und Lisa erklärt:
Im Grunde reagiert das Allerweltshaus auf alle starken Gefühlsschwankungen, die bei den Menschen Spuren hinterlassen, doch das Mehr-haben-Wollen – die Gier – gehört zu König Haurons Favoriten. Das Haus wächst durch den Zeitgeist, es wächst mit dem Zeitgeist, es lässt den Zeitgeist wachsen.
Dramatische Geschehnisse wie der Terroranschlag vom 11. September 2001 führen zu dramatischen Veränderungen im Haus. Kein Raum in dem Weltenhaus gleicht dem anderen. Und alle sind sie doch Spiegelbilder dessen, was die Menschheit seit vielen Jahrhunderten bewegt – im Guten wie im Schlechten. Auf der Suche nach seiner Schwester durchquert Jan viele dieser seltsamen Räume. Über jedem Portal des Hauses stehen die lateinischen Worte SUUM CUIQUE: »Jedem das Seine«. Nach diesem Motto leben auch seine Bewohner, an denen oft nur noch der Kopf menschlich ist. Den Rest des Körpers haben sie sich nach ihren persönlichen Schönheitsidealen modellieren lassen.
Zeitgeist kritisch beleuchtet
Ganz in der Tradition von Jonathan Swifts satirischem Roman Gullivers Reisen ist Das Allerweltshaus mit einer gehörigen Prise Gesellschaftskritik gewürzt. Wir leben in einer Zeit der Oberflächlichkeit. Das Online-Portal der Wochenzeitschrift ZEIT sprach sogar von der »Vormacht der Oberflächlichkeit«. Weil sich die Welt immer schneller zu drehen scheint, treten Follower an die Stelle von Freunden, der schöne Schein ersetzt die Qualität und Fake News die gut recherchierten Fakten. Abertausende bewerben sich in Castingshows, um schnell in den Olymp der angebeteten Stars aufzusteigen. Und die wenigen, denen es gelingt, verglühen oft nach kurzer Zeit als Sternschnuppe in der Atmosphäre eines knallharten Business.
Auch Lisa, die vierzehnjährige Schwester unseres Romanhelden Jan, träumt von einer Weltkarriere als Sängerin. Das Weltenhaus öffnet ihr diese Tür: Der Ausgang, durch den es Lisa entkommen lässt, führt sie in die Zukunft, ins New York des Jahres 2014. Nach einem spontanen Auftritt auf der Straße spült sie eine Welle von YouTube-Klicks geradewegs in den siebten Musikerhimmel. Das Musiklabel Parasound bietet ihr einen Vertrag an. Doch ihr Traum verwandelt sich in einen Alptraum, durch den sie alles verlieren könnte, was ihr lieb und teuer ist. Sogar ihr Leben gerät in Gefahr.
Der Zeitgeist verändert das Leben jedes Menschen, manchmal zum Besseren und manchmal zum Schlechteren. Eine dieser wechselvollen Geschichten von Licht und Dunkelheit erzählt mein Roman Das Allerweltshaus. Er ist ein Gedankenspiel dazu, wie der Zeitgeist das Allerweltshaus verändern und wie es seinerseits die Menschenwelt beeinflussen könnte. Würde das Weltenhaus die Kreativität und Vielfalt beflügeln oder eher verkümmern lassen?
Stellen Sie diese Frage Ihren Freunden, diskutieren Sie darüber in den sozialen Medien oder in der Schulklasse. Erzählen Sie eigene kleine Geschichten über das Allerweltshaus. Denken Sie sich ein Computerspiel aus. Seien Sie kreativ! Lesen Sie also nicht nur den Roman, lassen Sie sich von ihm inspirieren!
Das Allerweltshaus: Erste bildliche Annäherung an das Romanthema von 2012
Zum Inhalt
Ein klammer Nebel kriecht durch die Straßen von Elbstadt, als Jan und Lisa misslaunig die Bushaltestelle erreichen. Das Schulkonzert, bei dem die Geschwister hätten auftreten sollen, war abgesagt worden. Aus Respekt vor den Opfern des Terroranschlags in New York hieß es – zwei Verkehrsflugzeuge waren dort in die Türme des World Trade Centers gerast.
Als sich der Nebel bei der Bushaltestelle hebt, steht da plötzlich ein Haus. Noch am Morgen klaffte an selber Stelle nur eine große Lücke, die Narbe eines früheren Terrors, der Anfang 1945 Tausende Bewohner der Stadt zu Tode gebombt hatte. Die Fassade des merkwürdigen Hauses gleicht einem Flickenteppich aus unterschiedlichen Baustilen. Das Eingangsportal ist geformt wie ein Kontrabass.
Der sechzehnjährige Jan drückt sich den schwarzen Querflötenkoffer an die Brust und staunt. Die »Vorsicht« kommt im Wortschatz seiner zwei Jahre jüngeren Schwester nicht vor. Sie neigt eher zu unberechenbaren, spontanen Aktionen, mit denen sie beide in Schwierigkeiten bringt. So auch jetzt: Sie ignoriert Jans Bedenken, betritt einfach das Haus und kommt nicht mehr heraus. Er hat seinem Vater versprochen, auf die quirlige Nervensäge aufzupassen. Was bleibt ihm anderes übrig, als ihr zu folgen?
Hinter der Kontrabasstür liegen Gänge und Flure, deren gewaltige Ausmaße so gar nicht zu einem kleinen Gebäude in einer schmalen Bombenlücke passen wollen. Jan und Lisa sind dem Allerweltshaus in die Falle gegangen, dessen Eingänge ab und zu kurz in der ersten bis vierten Dimension erscheinen . In der fünften bis achten Dimension erstreckt sich das Weltenhaus über die ganze Erde. Und es verändert jeden, der es betritt.
Der Erste, dem Jan im Allerweltshaus begegnet, ist Atárah, der Magistrat für Kopfbedeckungen. Abraham Lincoln im Totengräberkostüm, denkt Jan. Der »Hüter der Hüte«, wie ihn manche auch nennen, ist groß, hager und von der Sohle bis hinauf zum schwarzen Zylinder ganz in Schwarz gekleidet. Atárah drängt Jan, sich im Kabinett der Hüte eine Kopfbedeckung auszusuchen, denn wer im Haus mit unbedecktem Haupt herumstreife, verliere selbiges nur allzu leicht. Jan hält dies zunächst für einen Scherz. Aber Atárahs Miene bleibt trotengräberernst. Der Hüter der Hüte lächelt nie.
Den glitzernden, verführerisch angestrahlten Kronen, Turbanen und sonstigen Prunkhauben kann Jan nichts abgewinnen. Er entscheidet, sehr zum Unwillen des Magistraten, für eine einfache Schiebermütze. Wie sich bald zeigt, verleiht ihm die Mütze eine ungewöhnliche Eigenschaft: Wen immer Jan etwas fragt, der muss ihm geradezu zwanghaft seine wahren Gedanken und Empfindungen offenbaren. Niemand kann den Träger der Schiebermütze belügen.
Bei der Suche nach Lisa durchquert Jan im Allerweltshaus allerlei seltsame Räume. Auffallend viele dienen dem vergnüglichen Zeitvertreib seiner Bewohner. Auf einem rauschenden Fest im Saal der Lustbarkeiten entdeckt er endlich seine Schwester. Ein junger Mann versucht ihr gerade Gewalt anzutun. Im letzten Moment kann Jan dem aufdringlichen Schönling Einhalt gebieten.
Lisa schämt sich und flieht vor ihrem Bruder. Er findet sie schließlich in einem langen Korridor, bedrängt von dunklen Gestalten. Es sind die mit langen Schwertern bewaffneten Haupt-Leute, vor denen Atárah ihn gewarnt hatte. Lisa flieht durch eine Tür und verlässt damit das Allerweltshaus. Nach wenigen Schritten verwandelt sie sich in eine junge Frau.
Jan will von den Schwertträgern wissen, was mit Lisa geschehen sei. »Sie hat die Krone gewählt«, erklärt deren bedrohlich wirkender Anführer. Jans Schiebermütze zwingt den Hünen, die Wahrheit zu sagen. Die Krone zeige, was Lisa im Innersten sei. Was sie gerne sein wolle. Das Diadem habe sie verwandelt. »In … was?«, fragt Jan beklommen. »In eine Königin«, antwortet der Haupt-Mann grinsend. »Du und eure Eltern sind für sie Vergangenheit. Vergessen und vorbei.«
So lange Jan seine Mütze trägt, können die Hauptleute ihm nichts antun. So kann auch er das Allerweltshaus durch denselben Ausgang verlassen, den Lisa genommen hat. Und findet sich in New York City wieder, dreizehn Jahre, nachdem er das Weltenhaus betreten hatte.
In dieser Zeit hat sich erstaunlich viel verändert. Das beginnt schon bei seinem Handy, mit dem er für viel Gelächter sorgt. Und das ist noch das kleinste Problem, das er auf der Suche nach seiner Schwester zu meistern hat. Er fühlt sich wie ein Versager, hat er seinem Vater doch hochheilig versprochen, auf Lisa aufzupassen. Jetzt ohne sie ins Allerweltshaus und – falls überhaupt möglich – ins Elbstadt des Jahres 2001 zurückzukehren, wagt er nicht. Er muss sie unbedingt finden.
In einem Schaufenster entdeckt er sie endlich – auf der Mattscheibe eines Fernsehapparats. Singend. Wohl eine spontane Performance auf der Straße. Typisch Lisa. Sie kommt ihm vor wie ein hirnloses Püppchen, das nur davon träumt, von aller Welt vergöttert und dadurch steinreich zu werden. Lisa hatte ja schon immer von einer Karriere als Popsängerin geträumt.
Obwohl niemand ihr Diadem sehen kann, weiß Jan, dass sie es immer noch trägt. Auch seine Schiebermütze ist seit Verlassen des Weltenhauses unsichtbar. Im Gegensatz zu Lisa fühlt er sich aber noch klar im Kopf.Da Bodyguards seine Schwester vor ihm abschirmen, kehrt er ins Allerweltshaus zurück.
Ständig auf der Flucht vor den schwarz gewandeten Schwertträgern sucht er jemanden, der ihm helfen kann. Im Hutmacher Davár findet Jan schließlich einen Verbündeten, der ihm verrät, wie Lisa ihren Fluch abschütteln kann. Davárs Worte rauben ihm fast den Mut.
»Dazu wären zwei Dinge vonnöten und Lisa darf dabei keinerlei Zwang ausgesetzt werden«, erklärt der Hutmacher. »Sie muss ins Allerweltshaus zurückkehren und das Diadem abnehmen.« Jan schluckt. »Freiwillig? Niemals. Sie spricht ja nicht mal mit mir.« Davárs Miene scheint zu versteinern. »Dann ist sie verloren.« …
Schutzumschlag
Schutzumschlag der Erstausgabe des Romans »Das Allerweltshaus" nach einem Entwurf von Ralf Isau (Hockebooks, 2018)
Zeit des Umbruchs und neuer Verlag
Der zu Random House gehörende Jugendbuchverlag cbj hat nach dem Erscheinen meines Romans Die Masken des Morpheus einen tiefgreifenden Umbau erlebt. Zu dieser Zeit haben cbj und ich beschlossen, vorerst keine neuen Buchprojekte mehr anzugehen. Es sind die Gründerjahre meiner Werbeagentur Phantagon gewesen. Ich musste dringend etwas »Druck aus dem Kessel« lassen: Jedes Jahr zwei dicke Schmöker zu schreiben und gleichzeitig ein Start-up erfolgreich zu etablieren, war schlichtweg unmöglich.
Hockebooks hat mir dann mehr Freiheit bei der Editionsstrategie eingeräumt. Freiheit, die ich in dieser Phase des Umbruchs so dringend brauchte. Verleger und zugleich Namengeber des Verlags ist Roman Hocke, der langjährige Lektor von Michael Ende. Hockebooks verlegt seit einigen Jahren erfolgreich die E-Book-Ausgaben meiner Klassiker wie der Neschan-Trilogie. Auch Das Allerweltshaus erscheint hier als E-Book und zusätzlich in einer gedruckten Ausgabe. Anders als in früheren Projekten, produzieren wir Das Allerweltshaus nicht auf Lager, sondern vorerst im Print-on-Demand-Verfahren. Möge es viele begeisterte Leser finden!
Verlagssignet von Hockebooks