Hintergrund zum Roman »Der Tränenpalast«
Metaphorik
Versteht es niemand?
Im Roman Der Tränenpalast geht des um ideologischen Dogmatismus. Perpeto, der Gegner des Helden Jim, verkörpert Personen und Institutionen, die eine Heilslehre mit totalitären Mitteln verteidigen. Derlei Dogmatismus findet sich nicht nur auf religiösem, sondern ebenso auf politischem und wissenschaftlichem Gebiet. Weltanschaulich motivierter Dogmatismus duldet keine kritische Auseinandersetzung mit seinen Lehrsätzen. Früher wurden Querdenker mit Vorliebe auf Scheiterhaufen verbrannt oder mit anderen Formen physischer Gewalt zum Schweigen gebracht. Heute ist die Vorgehensweise meist subtiler. Folgende Methoden sind typisch für ideologische Dogmatiker:
Der Angriff auf die Person:
Man muss nicht zwangläufig Theologe, Politiker oder Wissenschaftler sein, um die Schwäche einer Ideologie zu erkennen. Genau auf diese Position ziehen sich Dogmatiker jedoch gerne zurück. Einwände werden nicht durch bessere Gegenargumente entkräftet, sondern durch den Angriff auf die Person des Kritikers. Man tut alles, um diesen als unglaubwürdig darzustellen und damit das Nachdenken über seine Argumente abzustellen. Jim, die Hauptfigur im Roman Der Tränenpalast, erfährt diese Herabwürdigung, indem er zum Narr gebrandmarkt wird. In der Geschichte äußert sich Lamento, der Schultheiß von Rádor, voller Geringschätzung über ihn: »Wie sagt das Sprichwort so schön? ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.‹ Einem Einfaltspinsel wie Euch muss sich die Erkenntnis über die heilige Wiederholung verschließen … Aber warum Perlen vor die Säue werfen? Du wirst nie erleuchtet.«
Die eigene Autorität herausstellen:
Die Verfechter eines Dogmas berufen sich gerne auf die eigene Autorität, anstatt einfache und klare Erklärungen zu geben, die für sich stehen und jeden Unvoreingenommenen überzeugen müssten. Zur Veranschaulichung lassen wir noch einmal Lamento zu Wort kommen, der sich vor Jim aufplustert: »Wollt etwa Ihr, ein zerlumpter Barde, mir, einem Gelehrten von Adel, eine Lektion erteilen? Ich habe einen Doktor in Repititologie, der Königin der Wissenschaften, ohne die wir die Segnungen der Wiederholung nicht kennen würden. Ihr, ein ahnungsloser Narr und vermutlich der Sohn eines anderen Narren, könnt davon natürlich nichts wissen.« Aber muss die Wahrheit wirklich kompliziert sein?
Mit der Masse gehen:
Mit Begründungen wie »Alle denken so« oder »Jeder tut das« werden die unsinnigsten Dogmen verteidigt. Wir Menschen neigen im Allgemeinen dazu, uns anzupassen und freuen uns darüber, von anderen als einer der ihrigen betrachtet zu werden. Fortschritt wurde jedoch immer durch Veränderung des Bestehenden erreicht, nicht durch Wiederholung dessen, was die Masse tut.
Zu grobe Vereinfachung:
Schwache Argumentationen bedienen sich oft der groben Vereinfachung. Solche klingen eingängig, halten einer gründlichen Prüfung im echten Leben aber nicht stand. Eine solche Versimplifizierung der Sachverhalte ist genauso gefährlich wie die Einschüchterung mit komplizierten, hochtrabenden, aber unverständlichen Argumenten. Werden wichtige Überlegungen außer Acht gelassen, begibt man sich aufs Glatteis und läuft Gefahr auf der dünnen Decke von Scheinwahrheiten einzubrechen. Greifen wir die obige Argumentation Lamentos noch einmal auf und hören wir ihm etwas länger zu. »Einem Einfaltspinsel wie Euch muss sich die Erkenntnis über die heilige Wiederholung verschließen«, sagte er ja und fährt fort, »über die Ordnung, die Verlässlichkeit, die Planbarkeit und Vorhersehbarkeit - es gibt keine unliebsamen Überraschungen. Über die Gerechtigkeit - niemand kann sich über andere erheben, weil er ohnehin dort bleibt, wo er ist.« Nur durch eine groß vereinfachte Sicht, kann der Schultheiß sich die Welt so schönreden. Würde er die Zustände im Königreich Perpetos etwas differenzierter betrachten, müssten ihm die vielen Ungereimtheiten auffallen.
Entweder-oder-Denken:
»Entweder, oder«, sagt der Hüter des Messer-Tores, als gebe es nur zwei Möglichkeiten, sich vor einer Zerstückelung im Häckselwerk des steinernen Bogens zu bewahren. Auch die Propaganda der Dogmatiker arbeitet gerne mit dieser Methode. Nur zwei Wahlmöglichkeiten werden aufgezeigt, eine vordergründig angenehme und eine vollkommen unakzeptable. »Entweder ihr schickt alle Ausländer in ihre Heimat zurück oder sie nehmen euch die Arbeitsplätze weg.« So oder ähnlich argumentieren rechte Populisten, um Wählerstimmen zu fischen. Alternativen werden totgeschwiegen. Währe ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft und ein interkultureller Austausch nicht eine Bereicherung für alle? Pauschalierungen, zu denen auch das Entweder-oder-Denken gehört, zielen gewöhnlich an der Wirklichkeit vorbei und werden selten zu einer Verbesserung führen.
Im Roman Der Tränenpalast wird nicht jede Form der Wiederholung verurteilt. Nichts ist dümmer, als nur deshalb mit Traditionen, Sitten und kulturellen Errungenschaften zu brechen, weil wir jetzt im 21. Jahrhundert leben. Doch wie jede Maschine, so gehört auch eine Weltanschauung oder ein wissenschaftliches Paradigma regelmäßig auf den Prüfstand. Was für die Menschen gut ist, wird sich letztlich bewähren, was ihnen schadet, sollte man ändern oder abschaffen. Auch der Schluss des Romans lässt sich in diesem Sinne deuten.
Versteht es niemand?
James Joyce
James Joyce (1923)
© Copyright by Helmut Dohle 2008
Jim, die Hauptfigur im Roman Der Tränenpalast, ist einer der Kosenamen des irischen Schriftstellers James Joyce (irisch Séamus Seoighe; geb. 2. Februar 1882 in Rathgar, gest. 13. Januar 1941 in Zürich). Unter anderem wurde er von seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Nora Barnacle so genannt. Joyce gilt als einer der bedeutendsten Literaten des 20. Jahrhunderts. Einen Artikel der Biliotheca Phantanautica zu seiner Person finden Sie hier.